Recycling Medea – so der Titel des Films von Asteris Kutulas. Ein Film, der einem zyklischen Verlaufsmuster folgt, wonach der Film auf einen Punkt zustrebt, an dem – wie schon in der Antike – die Tragödie sich vollendet, auf dass sich erneut eine verheerende Situation entspinnt und unabwendbar ihren Lauf nimmt. Medea, die in Euripides‘ 431 v. Chr. entstandenem Werk alles beherrschende Figur, verkörpert geradezu exemplarisch, was das bedeutet: Tragödie. Deshalb ist der Medea-Mythos bis heute bekannt und wird immer aufs Neue rezipiert.
Medea – eine dramatische, extreme Figur, die nicht auf Rache, sondern auf Bestrafung sinnt. […] Es existieren verschiedene Versionen des Medea-Mythos. In einer heißt es, Medea habe ihre Kinder nicht in böswilliger Absicht getötet, sondern sie der Sphäre der Unantastbarkeit überantworten wollen – und sie habe sie nach der Tötung am Heiligtum der Hera-Akraia bei Korinth beerdigt. Etymologisch gesehen geht der Name Medea (gr. Μήδεια) auf das Verb medo (gr. μέδω) zurück, was soviel wie erraten, vorhersehen bedeutet. Das steht in Beziehung zum Namen Jason (gr. Ιάσονας), dessen etymologische Wurzel das Verb iáomai-ιómai (gr. ιάομαι/ ιώμαι) ist: „der/die auf Heilung bzw. Therapie Angewiesene“ – selbst, wenn dies in gewaltsamer Art und Weise erfolgen sollte. […] Medea als eine die Ereignisse forcierende Kraft vermag rotz ihrer seherischen und zauberischen Fähigkeiten nicht, der fürchterlichen Tragik des Schicksals zu entrinnen. Denn Nemesis höchstpersönlich (die Göttin des gerechten Zorns, der ausgleichenden Gerechtigkeit, aber auch die der Rache) wartet auf Medea, beziehungsweise sie schlüpft in die Rolle der Medea und bestimmt somit deren Schicksal.
In Asteris Kutulas‘ Film wiederholt sich die Geschichte: Hier ist es (nicht Nemesis, sondern) der Staat, der in die Rolle einer heutigen Medea schlüpft, die ihre eigenen Kinder tötet, beziehungsweise die Kinder ihrem ungewissen Schicksal überlässt. Durch diese Metapher, die den Staat als eine Medea kennzeichnet, wird emphatisch auf die Verbindung zwischen Staat und Bürgern verwiesen und zugleich darauf, wie diese sich gestalten sollte, was aber in der griechischen Realität nicht gegeben ist. Ein gestörtes Verhältnis also. Das Chaos, das entstanden war, und die Kluft, die sich zwischen Staat und Bürgern nach dem Ende der Obristen-Diktatur in Griechenland auftat – eine Kluft, die schließlich zu einem schier unüberwindlichen Abgrund wurde –, sie erzeugten blanken Hass auf Seiten der Bürger. Hass auf einen Staat, der nicht funktioniert, auf einen geschwächten Staatsapparat mit dem Körper einer Lernäischen Hydra und Köpfen, jeden Augenblick bereit, diejenigen in Stücke zu reißen, die es wagen, ihre Rechte einzufordern.
Mit diesem mosaikhaft strukturierten Film wird der Versuch unternommen, die griechische Realität widerzuspiegeln. Der Film nimmt immer wieder Bezug auf den antiken Medea-Mythos, auf die kulturelle Vergangenheit, die in stark ästhetisierter Form lebendig wird in den von Renato Zanella als Ballett choreographierten und von Maria Kousouni in der Rolle der Medea getanzten Szenen während der auf Mikis Theodorakis‘ „Medea“-Opernmusik basierenden Aufführung an einer der traditionsreichsten Bühnen Griechenlands, im Apollo-Theater auf der Insel Syros. Die Asteris Kutulas‘ Film durchziehenden Ballettszenen, die in einem geradezu perfekt passenden Ambiente gedreht worden sind, stehen, obwohl auch sie höchst dramatisch sind, im Kontrast zur Militanz des Widerstands und des Straßenkampfes, wie man sie in den letzten Jahren in steter Regelmäßigkeit in Griechenland erlebt. Auf die defizitäre und extreme Politik kann offensichtlich nur noch mit extremen Mitteln reagiert werden.
Da mit dem Film der Versuch unternommen wird, die historische Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen – und zwar mittels solcher Gegensätzlichkeiten und Paradoxa, die u.a. die griechische Identität ausmachen –, wird er seinerseits Ausdruck einer zutiefst widersprüchliche Identität, nicht zuletzt auch dadurch, dass die Darstellung der historischen Dimension immer wieder unterbrochen wird von eigenständigen, Fremdbestimmung thematisierenden Einlassungen. Ästhetisch basiert der Film auf dem Modell des Gegensatzes, wird doch die Kunst in ihrer erhabensten Manifestation mit der Realität, mit dem Alltag, mit der Gewalt und dem Widerstand auf den Straßen zusammengebracht – beides jeweils ein „Tanz“, wobei der eine den anderen konterkariert.
Entstanden ist ein Film, der mit den Dreharbeiten während einer Ballettinszenierung begann und der schließlich durch die Musik von Mikis Theodorakis, durch die tänzerische Darbietung von Maria Kousouni, durch die Choreografie von Renato Zanella und die Interpretation des Gesang-Ensembles der Staatskapelle St. Petersburg dem antiken griechischen Mythos einen höchst künstlerischen Ausdruck verleiht.
Der Film beginnt mit den ersten Takten und endet mit den letzten Takten der Opernmusik von Mikis Theodorakis. Das gesprochene Wort ist im Film nur selten zu vernehmen. Ausdrucksstarke Close-ups rücken die sechs Solotänzerinnen und Solotänzer in den Fokus (die fulminante Primaballerina Maria Kousouni in der Rolle der Medea), sei es in lyrischen Tanzszenen während der Ballettaufführung oder in den mit diesen sich abwechselnden Aufnahmen von Probensituationen. Eine atemberaubende Mischung aus klassischem Ballett und modernem Ausdruckstanz, verwoben mit Bildern von aufbegehrenden und maskierten Jugendlichen, von schwer bewaffneten, entfesselten Polizeibeamten – Gestalten aus einer anderen, gnadenlosen Welt, die sich der Alltagsrealität bemächtigt hat.

Mitten in dieser Welt taucht plötzlich die Gestalt der 15jährigen Bella Oelmann auf, die in eigenständigen musikalischen „Zwischenspielen“ als personifizierte Unschuld den komplementären Gegenpart zu Medea und deren magischen Fähigkeiten darstellt. Unschuld in ihrer natürlichsten Erscheinung – das ist die einzige Waffe, die dieses Wesen einzubringen hat. Schließlich werden sämtliche Aspekte auf die Urimpulse der menschlichen Kraft zurückgeführt […]. Eigentlich tut Bella Oelmann nichts anderes als dass sie sie selbst ist, überzeugend eingefangen in einem paradiesisch heilen Ambiente, durch Kameraeinstellungen und kinematographische Bilder, sehr nah an einer Ästhetik der „Vollkommenheit“, wie sie einzig die Natur selbst hervorzubringen vermag.
[…] im Fall von „Recycling Medea“, wo diese Szenen gesetzt sind zwischen diejenigen, die die außergewöhnlich sensible Ausdruckskraft des Tanzes und der Musik ausmachen, eine weitere Art von Perfektion – , hier vermittelt uns Bella mit ihrem Auftritt einen Eindruck des Traums von einer idealen Realität. Die Filmform, die das Motiv der zyklischen Wiederkehr impliziert, versetzt uns phasenweise in einen Raum jenseits des Urbanen, nämlich in die Natur, wodurch sie auf die uns unmittelbar umgebende Ästhetik verweist und somit zugleich darauf, dass wir in Kontakt mit den Naturelementen bleiben müssen, wollen wir uns von unseren Leiden in konstruktiver Weise erlösen.
Die Unschuld, die verdammt ist, ausgespien von der Gesellschaft, ausgeliefert der Erschöpfung, der Frustration und der Lieblosigkeit, wie es Regisseur Asteris Kutulas ausdrückt. Die Eltern, die ihre Kinder „töten“, sei es aus Fahrlässigkeit, sei es mit Vorsatz, aus welchen persönlichen Motiven und auf welche Art und Weise auch immer – eine extreme Realität, die allerdings existiert und sich durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder als „recycelbar“ erwiesen hat. Es handelt sich um einen sehr eigenen, besonderen Film, der sich nicht einem der gängigen Filmgenres zuordnen lässt, sondern vielmehr einer dreifachen nicht-linearen Narration folgt, einer narrativen Struktur der Choreographie, der Musik und der Einbindung dokumentarischer Momentaufnahmen, die uns aus der hochästhetischen Welt der Kunst immer wieder in die harte und gewaltsame Realität zurückversetzen, wie sie heute auf den Straßen von Athen in Kameraaufnahmen festgehalten wird. Der Film ist eine Collage von Szenen, die nicht allein sowohl die urbane Landschaft als auch die Natur, sondern ebenso die Ästhetik des Tanzes und der Musik einzufangen vermögen.
Ein Film der Gegensätze, der die Paradoxa und das Erodierende der griechischen Realität widerspiegelt und aufgrund seiner besonderen Ästhetik und der Fragen, die er aufwirft, nur als Kunstfilm bezeichnet werden kann; ein Film, der das Publikum mit Fragen konfrontiert. Wobei das Publikum diesen Film offenen Blickes und wachen Geistes verfolgen wird und keineswegs mit der Erwartungshaltung, einen didaktischen, irgendwie längt bekannten Film zu sehen.
Eva Kekou, Phd, Media Art Lecturer
Athen, 2016
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